Freitag, 12. März 2010

1. Szene - Gebet

1. Szene - Gebet

V in einem langen, schwarzen Mantel, darunter ein Nachthemd; T in einem Trainingsanzug. Auf das vordere linke Laken wird ein Film über Schmetterlinge, auf das vordere rechte Laken ein Film über Käfer, Würmer, Asseln projiziert.

T:

Mach das weg!

V:

Tot warst du nicht.

Saßest tagelang auf dem Buch

u. rührtest dich nicht.

T:

Mach das weg! Mach es weg!

V:

Kalt war’s

u. dunkel, so dunkel, in der Trübe meiner Verzweifelung

ich hatte keine Lust mehr zu heizen

Scheite zu spalten

Bäume zu fällen

das Zimmer zu verlassen

T:

Faul warst. Hast dich eingesperrt u. bist vor uns geflohen.

V:

Tot warst du nicht.

Ich habe dich beobachtet, tagelang.

Hatte dich im Auge.

Erst hattest du mich geekelt. Ich dachte,

du seiest wieder so ein Ungeziefer,

wie sie aus den Ritzen gekrochen kommen,

wie sie die Kellertreppen hoch geschlichen kommen

Eindringlinge

Erinnerungsfetzen

dessen was ich schon längst vergessen hatte.

T:

Du hast doch alles vergessen. Hast du etwa nicht vergessen,

dass es mich gibt? Hast du nicht vergessen, wie man mit eigenem Fleisch

umgeht? Du bist so erinnerungslos wie der Schmutz in der Ecke,

der nicht weiß, woher er stammt.

V:

Tot warst du nicht.

Als ich dich von der Seite betrachtete, sah ich deine Farben schillern,

du saßest auf dem Buch,

auf meinem Buch

T:

Dein ein u. alles

T sprüht V mit Putzmittel ein

V:

(Hustet u. mit wegwischender Geste)

Ich wischte dich nicht weg, obwohl du auf meinem Buch saßest,

tagelang

wochenlang

monatelang

fast ein Leben

du rührtest dich nicht,

hattest du keine Nahrung nötig. Ich musste essen,

immerzu essen, wie es mich ekelte

all diese Dinge

die Wurst

das Fett

das Fleisch

die Marmeladenbrote

in den Mund zu stecken. Jeder Bissen würgte mich, ich konnte es nicht lassen.

T:

Für mich hattest du nichts übrig,

nichts übrig gelassen. Hast du mich überhaupt gesehen?

Hattest du mich gesehen, als du mich in den Keller einsperrtest,

zu den Spinnweben u. zu den Konserven,

zwischen die kalten Steine, die wärmer waren als dein Atem,

den du mir schreiend in die Visage schrieest,

ich solle dir aus den Augen gehen

aus dem Sinn gehen

du wüsstest nicht, wer ich überhaupt sei,

wer ich denn sei,

dabei habe ich die gleiche beschissene Nase wie du,

die gleichen Augen, die sich nicht schließen können,

die immerzu sehen müssen

den Dreck sehen müssen

in allen Ecken

in meinem Gesicht,

auf meinen Händen, zwischen meinen Beinen

immerzu sollte ich ihn wischen

schrubben

reiben

schaben

kratzen

Seele polieren

immerzu

doch du gingst nicht ab von mir

V:

(Schmiert sich gelbe Farbe ins Gesicht)

T:

Was tust du da? Drehst du jetzt völlig am Rad.

(Sprüht ihm das Putzmittel direkt ins Gesicht u. wischt es mit einem Lappen fast sauber)

V:

Warst nicht tot.

Saßest auf meinem Buch, auf meinem Kreuzworträtselbuch

1000 Seiten

hinein schrieb ich all mein Wissen,

ja, ich hatte Wissen. War einmal gescheit, hatte Nächte mit Lernen zugebracht,

mich durch die Fakten gefressen, man muss doch die Welt kennen

(schmiert sich mit roter Farbe ein)

T:

(Sprüht ihm wieder Putzmittel ins Gesicht u. wischt es sauber)

Drecksau!

V:

Jedes Kästchen ein Moment meines Lebens. Ich betete euch an. Das Gnu war mein Totem,

der germanische Wurfspieß meine Waffe

u. die Flüsse der Welt flossen durch meine Adern

jeden Tag

jede Woche

jeden Monat

jedes Jahr

T:

Seit ich zur Welt kam!

V:

Seit ich denken kann. Ich fiel in die Welt als erwachsener Mann.

Erwachte aus dem Babyschlaf mitten hinein in den Beruf.

Mitten hinein in ein Leben, in dem sie, seit ich denken kann,

auf mich einredeten.

In den Kästchen u. Reihen u. Spalten dieses Buches war Ruhe,

war Wissen

war Erinnerung

woher kam ich denn

(schmiert sich mit schwarzer Farbe das Gesicht ein)

T:

Ich weiß es. Auch wenn du es mir nie sagtest. Sprachst kein Wort.

Redetest zwar unaufhörlich.

Sprachst aber nicht mit mir.

Gut

du schrieest

schrieest, ich solle dir aus den Augen gehen. Solle im Keller bleiben,

solle mich einsortieren zwischen die Konservenbüchsen u. verfaulenden Äpfel,

solle mich einweben in die Spinnennetze.

Lachtest

die Spinnen hätten ihre liebe Freude an mir, die ich so blutleer sei.

Das sagtest du.

(Will ihn ansprühen, aber die Putzmittelflasche ist leer)

Nichts mehr da.

Du und dein Sparzwang.

Dein Geiz.

Ich war noch zuviel

V:

Warst nicht tot.

Schillertest im Licht.

T:

Du fantasierst. Hättest du mal aufgeräumt. Hättest du mal

die Augen geöffnet. Hättest du überhaupt mal etwas getan. Du schriest noch den Schmetterling auf dem beschissenen Buch an, er lebe u. er sei nicht tot.

Was glaubst du denn? Was glaubst du denn, wer du bist?

Wer glaubst du denn, was du bei dir bist, dass selbst so ein Vieh

bei dir bleibe.

Bei dir.

Da lachen ja die Hühner.

Da könnt ich gleich kotzen.

(Nimmt den Eimer mit gelber Farbe u. schüttet ihn gegen das hintere Laken)

Hättest du nicht Geld vom Staat bekommen,

so unendlich viel Geld,

du hättest deinen Arsch erheben müssen, du hättest mit anderen sprechen müssen.

Aber du.

Du hattest die Tür abgeschlossen. Hattest die Fenster verriegelt. Die Heizung versiegelt.

Wir lebten in Kälte.

Wir lebten in Dunkelheit.

Wir lebten im Schweigen.

Die einzige Wärme, die mir blieb, war die Wärme des Klopfens im Herzen.

Das Angstklopfen, das den Keller durchpochte wie Gehämmer, wie das Schlagen einer Eisenstange auf den Hinterkopf, um den Schädel zu spalten.

(Nimmt den Eimer mit roter Farbe u. schüttet ihn gegen das Laken.)

V:

Warst nicht tot.

Ich hier in der Tiefe der Verzweiflung.

T:

(Lacht ihn aus. Streckt ihm die Zunge raus. Spuckt ihn an)

V:

Ich hier aus der Tiefe meiner Verzweiflung,

ich bete das Buch an, bete dich an,

der du nicht tot warst,

der du da saßest u. wartetest in Ungeduld

u. Schuldlosigkeit.

Jenseits jeder Störanfälligkeit.

Ich hatte immer diese Störanfälligkeit in den Gliedern,

dieses Zucken, Gribbeln, Zittern,

ich hätte schreien können.

T:

Du hast geschrieen.

V:

Der Schmerz in meinen Ohren.

T:

Selbst wenn ich nur atmete, schicktest du mich in den Keller.

Ich warf alle Gläser mit roter Beete auf den Boden u. legte mich hinein, damit niemand die Wunden sieht, die Schrammen, die ich mir an den scharfen Kanten der Steine holte.

Ich blutete in die Krauttröge. Ich übergab mich in die Schmalzschüsseln. Ich kotzte in die Butterfässer. Du hast es trotzdem gefressen, dir das Kraut ins Maul gestopft, das Schmalz mit den Fingern zwischen die Zähne geschmiert, dir die Butter in die Kehle gepresst, als könntest nicht genug Fett abkriegen.

V:

Wie es mich ekelte.

Aber wenn ich dich auf dem Buch sitzen sah, sah ich mich.

So sehe ich wirklich aus.

Ich schimmere.

Gott, ich schimmere u. scheine u. bin bunt u. habe Flügel.

Gott, du hast mir Flügel gegeben u. hast mich leicht gemacht, dass ich in der Luft schwebe wie die Samen im Altweibersommer.

Du hast mein Inneres geschmeidig gemacht, dir zu ehren fettete ich es jeden Tag, dass es zart u. empfindsam blieb. Empfindsam für deine Worte, die ich

jeden Tag

jede Woche

jeden Monat

jedes Jahr

in die Kästchen eintrug. Fein u. säuberlich u. akkurat u. passend.

Alles war in Ordnung. Du hattest mich in dieses Leben geschickt

als erwachsenen Mann

als großes Kind

schillernd, wie der Schmetterling auf dem Buch.

Er war nicht tot.

Nein, tot war er nicht. So lebendig wie ich.

Wir warteten.

T:

(lachend)

Bis du schwarz wurdest.

V:

(beiseite)

Du hast mir immer am Kragen rumgemacht

Spucke auf die Fingerkuppe u. ins Gesicht

Scheiße, hat mich das angepisst

konntest du damit nicht aufhören

(zum Publikum)

Konnte sie damit nicht aufhören. Konnte sie nicht einmal hören.

Konnte sie nicht einmal sehen, wer ich war.

Konnte sie das nicht.

Konnte nicht.

Nicht.

(schreiend)

Nicht.

T:

(heulend)

Nie habe ich dich angefasst. Wie du mich nie anfasstest.

Du hast mich höchstens geschlagen. Einmal hast du mich geschlagen

(schlägt ihm mit dem Lappen quer durchs Gesicht)

Hast mich geschlagen.

Sagtest, ich Fremde solle dir aus dem Sinn gehen.

Ich sei deine Sünde.

Ich sei deine Strafe.

Ich sei an allem schuld.

Ich habe in deine Marmeladengläser geschissen.

Du hast es nicht bemerkt.

Ich habe auf dein Pökelfleisch gepisst.

Du hast es nicht gerochen.

V:

(hält sich die Ohren zu)

Du warst nicht tot.

Du sprachst zu mir.

Du erlöstest mich von der Strafe des Buches.

Vom Fluch des Schreibens.

Endlich musste ich die Welt nicht mehr abarbeiten.

Endlich konnte ich so dasitzen wie du.

Du, mein Gott,

den ich aus der Tiefe meiner Verzweiflung,

aus der Tiefe meiner Liebe,

meiner unendlichen Liebe,

ein Leben lang staute sie sich an,

anbete

(geht zum Laken u. drückt sein Gesicht ins Laken.)

Hier höre ich auf. Hier fange ich an.

Ich bin’s nicht mehr u. bin’s erst jetzt.

Ich. Ich da. Ich hier. Seht mir ins Antlitz.

Sieh mir ins Antlitz.

(packt T an den Haaren. Sie schreit. Presst ihr Gesicht gegen das Laken auf den Abdruck seines Gesichtes)

Sieh mir ins Antlitz.

Ich bin nicht tot.

Ich schillere. Ich schillere unendlich.

Und dahinter sind die ganzen Worte.

Alle Worte.

Die ganze Welt.

Die ganze Welt.

Die ganze Welt.

Die ich bin.

(Wirft sie auf den Boden. Legt sich auf sie. Sie schreit. Er hält ihr den Mund zu)

Du bist nicht tot.

Nein, tot bist du nicht.

Du bist ich. Hörst du.

Ich.

Ich.

U. dafür wirst du büßen.

Wie ich büßen musste.

Tagelang.

Wochenlang.

Monatelang.

Du warst das Zeichen meiner Strafe.

Du bist nicht tot. Du bist das Zeichen meines Gottes.

Du bist mein Gebet.

Meine Buße.

Du bist mein.

Du bist nichts.

Rein gar nichts.

(Zerrt sie zu den Farbeimern. Sie wehrt sich. Entflieht)

Ich kenne dich nicht.

Du bist tot.

Glaube nicht, ich habe nicht getötet.

T:

(Steht auf. Stellt sich an den Rand der Bühne. Zeigt mit dem Finger auf V. Dreht sich dann ganz langsam Richtung Publikum u. zeigt auf das Publikum)

V:

Ich öffnete das Fenster u. ließ den Schmetterling fliegen. Und das Buch hinterher. Weg mit dem Kinderkram.

T:

(Breitet die Arme aus u. ahmt Flügelschläge nach. Läuft wie eine Irre über die Bühne, mit den Armen schlagend)

V:

(Kniet nieder und klatscht rhythmisch in die Hände)

Licht aus.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen